Meinem Gedärme ging es bald
wieder besser und wir besuchten diverse Restaurants in Bischkek, die zu unserer grossen Freude westliches Essen
servierten. Das beste Essen jedoch wurde uns in einem chinesischen Lokal gleich
um die Ecke aufgetischt. Neben der Organisation unseres Chinavisums war dies
die perfekte Vorbereitung für das nächste Land auf unserer Reise. Gemeinsam mit
Esther und Christof planten wir über den Torugart-Pass
ins Reich der Mitte zu radeln. Nachdem wir unsere Vorratstaschen prall gefüllt
hatten mit Müesli, Milchpulver, Snickers und etlichen anderen
überlebensnotwendigen Dingen, konnte es losgehen. Nach dem Wetterwechsel, der zwar
75% von uns eine deftige Erkältung bescherte, waren die Temperaturen mit rund
30°C endlich wieder etwas angenehmer zum Radfahren und wir legten am ersten Tag
gleich knappe hundert Kilometer zurück bis zu unserem ersten Zeltplätzchen nahe
der kasachischen Grenze.
Esther und Christof zeigten uns, dass man auch ganz
gut mal Gemüse, Fleisch und Kartoffeln auf dem Benzinkocher zubereiten kann,
anstatt einfach einen Sack Kartoffelpüree anzurühren und fertig. Wir genossen
unser gemeinsames Znacht und verkrochen uns bald erschöpft vom langen Tag in
unsere Zelte. Kurz nach Mitternacht riss mich ein dumpfes Geräusch aus dem
Schlaf. Da, nochmal, war das ein Schlag gegen unser Zelt? Erst beim dritten Mal
realisierten wir, dass wir mit faustgrossen Steinen attackiert wurden. Rasch
zogen wir uns an, und Domi stürmte aus dem Zelt in Richtung der Steinewerfer,
die er im Dunkeln auf der anderen Seite des Bewässerungskanals vermutete. Er
fluchte laut, worauf sich zwei Gestalten hinter einem Felsen versteckten. Was diese
aber nicht ahnten war, dass sich Christof bereits aus dem Zelt geschlichen
hatte, lautlos über den Kanal gestiegen war und sich den beiden nächtlichen
Angreifern von der Seite näherte. "Ihr
choga Sausiacha!" hörten wir plötzlich laut schreien, und die
Verfolgungsjagd begann: Nachdem ein nicht gerade kleiner Stein sein Ziel
verfehlt hatte, nahmen die Jungs Reissaus, Christof blieb ihnen dicht auf den
Fersen. Ob sie sich vor dem zweiten Geschoss, einem daherfliegenden
Schaschlick-Spiess, in Deckung bringen konnten, erfuhren wir nie - der Spiess
fehlt bis heute in Christofs Grill-Set. Domi duckte sich vorsichtshalber ebenfalls,
als Christof in seine Richtung schrie "Bisch
du au sonen Sauhond?" Die Situation war dann aber rasch geklärt und während
Esther und ich die Zelte bewachten, sicherten Domi und Christof gemeinsam die
Umgebung, um schliesslich festzustellen, dass die beiden Angreifer verschwunden
waren und wir legten uns bald wieder Schlafen.
hinterhältig und böööse |
Nach einer ruhigen zweiten
Nachthälfte brachen wir unsere Zelte ab und schwangen uns wieder auf die
Sättel. Kaum losgefahren, riss Domi an vorderster Stelle eine Bremsspur in den
Sand. Was wir dann sahen, verschlug uns den Atem: Während wir friedlich schliefen,
hatten zwei Kirgisen volle Arbeit geleistet: Quer über den Weg steckten scharfe
Glasscherben im Sand, gut getarnt mit Gestrüpp und Erde. Noch lachten wir, da
es ein leichtes war, die Scherben mit den Schuhen zu beseitigen. Dies dachten
sich die beiden Jungs wohl auch, denn gleich darauf folgte eine Strecke von
ungefähr zehn Metern, die über und über übersät war mit Glasscherben. Hier gab
es definitiv kein einfaches Durchkommen mehr. Wir stiegen ab, schoben unsere
Räder vorsichtig über die Scherben und wunderten uns über so viel
Boshaftigkeit.
Bei Saadagul in Kochkor |
Enttäuscht und sprachlos erreichten wir schliesslich wieder die
Hauptstrasse, wo wir auf Nicole und Timon trafen, zwei weitere Schweizer
Tourenradfahrer. Sie hatten in Kirgistan zufälligerweise dieselbe Route gewählt
wie wir, und so ergab es sich, dass wir von da an zu sechst unterwegs waren. In
gemächlichem Tempo fuhren wir erst über Asphalt, dann immer öfter über
Schotterpisten entlang von chinesischen Strassenbaustellen in Richtung Kochkor. Auch an diesem Tag kam der
grosse Hunger gegen die Mittagszeit und wir fragten einen Mann am Strassenrand,
wie weit es noch sei bis zum nächsten Ashkana.
In drei, vier Kilometern hätte es viele Restaurants, keine Sorge. Beruhigt
fuhren wir weiter über die staubige Rumpelpiste. Nach vier Kilometern
erreichten wir einen Parkplatz, aber weit und breit war keine Gaststube in
Sicht. Ich fragte erneut einen Kirgisen, der mit seinen Freunden genüsslich
eine Melone verzehrte, wie weit es denn noch sei zum Ashkana. "Drei, vier
Kilometer" war die ernüchternde Antwort, doch mit dieser schenkte er
uns eine halbe Melone, ein Brot und eine Flasche Wasser. Genügend Brennstoff,
um auch diese Zusatzetappe noch zu schaffen. Nach vier Kilometern kam dann
weder ein Restaurant noch ein Kirgise am Strassenrand, und so fuhren wir
einfach weiter. Nach neuerlichen vier Kilometern dann endlich: eine Fressmeile.
Ausgehungert stellten wir unsere Räder hin und genossen ausgiebig unser spätes
Mittagessen. Weit schafften wir es dann nicht mehr nach dieser riesen Portion Laghman und stellten unsere Zelte bei
der nächstbesten Gelegenheit auf.
in der Jurte |
Am darauffolgenden Morgen klagte Domi über
Bauchschmerzen und Appetitlosigkeit, was bei Radfahrern eher selten und wenn
dann ein schlechtes Zeichen ist. Bis Kochkor
waren es zum Glück nur noch dreissig Kilometer, doch diese führten über einen
Pass. Nach Gepäckumverteilung fuhren wir schliesslich gemeinsam, in langsamem
Tempo über den Berg und erreichten am Nachmittag das Bergstädtchen, wo wir uns
in einem gemütlichen Bed and Breakfast niederlassen konnten. Während Domi sich
im warmen Bett auskurierte, steuerten wir den Basaar an, um genügend Proviant für die abgelegene Route an den Song Köl, einen 3000 m hoch gelegenen,
riesigen Bergsee, einzukaufen. Auch Ruedi und Fabienne verbrachten einige Tage
hier in Kochkor, wie wir dann
zufälligerweise feststellten. Die Beiden hatten ihre Fahrräder für eine Weile
in die Ecke gestellt und erkundeten Kirgisien auf dem Pferderücken. Wir
wussten, dass die Strasse zum Bergsee mit dem Fahrrad kein Zuckerschlecken werden
würde und entschieden aufgrund Domis Gesundheitszustand noch einen Tag länger
in Kochkor zu bleiben, um Kräfte zu
sammeln, während die anderen vier bereits losfuhren um später am Song Köl einen Ruhetag einzulegen.
In der Tat - der Weg zum See war
lange und holprig. Starker Gegenwind erschwerte die Bergfahrt auf der
Schotterpiste zusätzlich. Wir erkämpften uns jeden Höhenmeter, um die anderen
einen Tag später am See einholen zu können. Wir passierten ein letztes kleines
Dorf und liessen die Zivilisation hinter uns, fuhren weiter und weiter an einem
friedlichen Bergbach entlang, durch idyllisches Hügelland unserem Zwischenziel
entgegen. Plötzlich sahen wir hoch oben auf einem Hügel den Umriss eines grossen,
sitzenden Mannes - ein kirgisischer Hüne?! "At Kuda?" rief es plötzlich in russischer Sprache mit breitem
Thurgauer Akzent vom Berg herab. Und so trafen wir bereits einen Tag früher
wieder auf unsere vier Velofreunde. Sie mussten ihren Pausentag ebenfalls nach
vorne verschieben, da es diesmal Nicole und Timon erwischt hatte - das
Quellwasser schien hier oben nicht das Beste zu sein. Für unseren abendlichen
Tee kochten wir also das Wasser ab. Und schon begingen wir unseren zweiten
Fehler, der einem echten Pfadfinder nie passiert wäre: Auf 2500 m.ü.M. kocht
das Wasser natürlich bereits bei tieferen Temperaturen, und je tiefer die Siedetemperatur,
desto länger dauert es, bis die meisten Keime abgetötet sind. Aber eben, jeder
der hier unterwegs ist, führt seinen Beruf in irgendeiner Form weiter: Abwarte
warten ihre Ausrüstung besser als andere, Illustratorinnen bringen ihre
Reiseeindrücke kunstvoll auf Papier, und Domi und ich züchten Bakterienkolonien
und behandeln diese anschliessend mit potenten Arzneimitteln (bei mir steht
mittlerweile das Verhältnis Antibiotikakuren zu platten Reifen 4:3).
Beschwerlicher Weg an den Song Köl |
Geschafft! |
Eindrücke vom Song Köl:
Die
letzten Höhenmeter zum Song Köl schafften
wir also dann doch irgendwie und fanden auch bald ein wunderschönes
Zeltplätzchen zwischen Schafen, Pferden, Jurten und Edelweiss. Zeit für einen
zusätzlichen Ruhetag hatten wir nicht mehr, denn wir hatten einen fixen
Einreisetermin nach China: Der Torugart-Grenzübergang
ist einer der unberechenbarsten in ganz Zentralasien in Bezug auf die
Öffnungszeiten und offiziell für Touristen gar nicht passierbar. Doch mit
horrend teurem vorarrangierten Transport auf der chinesischen Seite drücken
sowohl kirgisische als auch chinesische Zöllner ein Auge zu. So fuhren wir in
geschwächtem Zustand gegen den pfeifenden Wind entlang des Ufers des Bergsees,
wärmten uns kurz in einer Jurte bei Tee und Eiernudeln auf, und genossen dann
am Spätnachmittag die spektakuläre Abfahrt hinunter ins Tal des Naryn-Flusses.
Eben noch hatten weite
Grasflächen die Landschaft geprägt, und nun wuchsen herrlich duftende Kräuter
am Wegrand und grüne Tannenwälder zierten die steilen Berghänge. Wir stellten
an einem kleinen Bergbach unsere Zelte auf und wurden kurz darauf von ein paar
Milchkühen besucht - schon waren sechs tiefe, lange Seufzer zu hören, sah es
doch hier wirklich aus wie in der Schweiz (nach fünf, bzw. sechs, bzw. acht
Monaten darf man ein bisschen Heimweh haben). Ja, aufgrund seiner Berge und
Seen wird Kirgisien öfters die Schweiz Zentralasiens genannt oder als zweite
Schweiz bezeichnet. Als diverse Kirgisen uns fragten, woher wir kämen, drehten
wir den Spiess um: "Iz ftaroy
Kyrgyzstan - aus dem zweiten
Kirgisien kommen wir", ernteten erst ahnungslose Blicke und nach der
Auflösung des Rätsels lautes, begeistertes Lachen.
Um ganz hinunter ins Naryn-Tal zu kommen, vernichteten wir
noch ein paar Höhenmeter und fanden uns bald in einer heissen und trockenen
Gegend wieder. Wir fuhren durch etliche kleine Dörfer, in denen wir öfters und vor
allem schon frühmorgens mit einem lallenden "wasssssallamalleikküm" begrüsst wurden. Langsam hatten wir uns
daran gewöhnt, dass die meisten Kirgisischen Männer mit denen wir ins Gespräch
kamen, ihren Durst nicht mit Wasser, sondern lieber mit dem viel billigeren
"Wässerchen" - Vodka
löschten. In Naryn verabschiedeten
wir uns dann von Nicole und Timon, die vor ihrer Rückreise in die Schweiz noch
ein bisschen länger durch Kirgisien radeln wollten, und organisierten neuen
Proviant, sowie einen "Coverletter", der uns zu einer problemfreien
Fahrt bis zur kirgisischen Seite des Torugart-Passes
verhelfen sollte. Noch am selben Tag fuhren wir weiter.
Nur noch knapp 200 km
trennten uns von China - der grossen Zwischenetappe unserer Reise. An einem
klaren aber leider salzhaltigen Bach liessen wir uns nieder und verbrachten den
Abend getrennt in unseren Zelten - nicht weil wir uns gestritten hätten,
sondern weil es seit langem wieder einmal regnete und furchtbar kalt war. Es
war Herbst geworden. Nur um den Kirgisen, der trotz schlechtem Wetter auf seine
zusammengeklebten Sonnenbrille bestand und sich kaum noch auf seinem Pferd
halten konnte, zu begrüssen, krochen wir rasch hinaus. Nach einer langen Nacht
und einem noch längeren Frühstück kam dann doch noch die Sonne und wir nahmen
die nächste Etappe in Angriff. Die Landschaft wurde nun zunehmend trockener und
dementsprechend war es schwieriger Wasser zu finden. Obwohl wir bereits auf über
2000 m.ü.M. waren und eher schneebedeckte Berge und klaren Quellen erwarteten, sahen
wir uns wieder in eine Wüste zurückversetzt. Die Strasse führte kilometerlang
schnurgerade durch eine trostlose Gegend. Eine einzelne Kurve gefolgt von einem
leichten Anstieg in der Abendsonne war das Highlight an diesem Tag.
Wir
campierten weit weg von jeglichen Dörfern und wurden erst am nächsten Morgen
von einer Truppe chinesischer Strassenarbeitern besucht. Dies bescherte uns
einen ersten Vorgeschmack auf das riesige Nachbarland - wir verstanden kein
Wort von dem was die Chinesen von uns wissen wollten. Zum Glück wurden sie
begleitet von ihrem pakistanischen Vorarbeiter, der sowohl der chinesischen,
als auch der englischen Sprache mächtig war, und wir konnten uns verständigen. Auch
am nächsten Tag führte uns die Strasse und der angenehme Rückenwind sanft
weiter in die Höhe, so dass wir keinerlei Probleme hatten, die 3000er
Höhenlinie zu überqueren. Da wir am Wochenende unterwegs waren, wo der
Grenzübergang für gewöhnlich geschlossen ist, hatten wir die Strasse praktisch
für uns alleine. Nur ab und zu wurden wir durch vorbeidonnernde Lastwagen, die
als erste in der Schlange stehen wollten, mit Strassenstaub paniert.
Bald
einmal kamen wir zum äusseren kirgisischen Checkpoint. Die Spannung stieg, denn
aufgrund verschiedenster Reiseberichte und Streckeninformationen aus dem Lonely
Planet rechneten wir jederzeit damit, zurückgeschickt zu werden. Es war dann
aber kein Problem - nicht einmal unseren teuren Coverletter wollten die
Soldaten sehen. Wir füllten unsere Wassersäcke für die nächsten zwei Tage und
fuhren weiter - noch 50 km bis zur chinesischen Grenze. Doch die Höhe und der
schlechte Strassenzustand liessen uns noch ein weiteres Nachtlager in der
kirgisischen Steppe aufschlagen.
Ein einsames Pferd schaute uns zu, wie wir
unsere Zelte aufstellten, Nudelsuppe kochten und wie Christof und Domi Esthers
Rohloff-Gangschaltung reparierten. Wir genossen den klaren Sternenhimmel bis
uns die Kälte in unsere warmen, kuschligen Daunenschlafsäcke zwang. Nur noch
eine Tagesetappe trennte uns vom Reich der Mitte. Am nächsten Tag war ich
erneut durch einen nächtlichen Brechanfall (trotz Antibiotika - war es nun die
Höhe oder doch die gefürchteten Lamblien?) geschwächt, doch wir schafften es
bis zur Grenze, wo wir von kläffenden und zähnefletschenden Hunden begrüsst
wurden.
Grenzregion Kirgisien - China:
Der Grenzübertritt war für den nächsten Tag geplant, so hatten wir es
mit unserem chinesischen Taxiservice ausgemacht. Wir übernachteten direkt vor
der Grenze und fuhren am nächsten Morgen durch die wartende LKW-Schlange und
vorbei an schweizerischen und deutschen Touristen, die mit ihren Minibussen
ebenfalls vor dem Schlagbaum warteten. Kaum abgestiegen, kam auch schon ein
kirgisischer Zöllner und winkte uns durch zur Zoll- und Passkontrolle. Wir
betraten ein riesiges, verlassen wirkendes Betongebäude. Unsere Rufe hallten
wider als wir den Beamten mit Stempel suchten. Christof wurde schliesslich
fündig: in einem kleinen Kabäuschen sass eine einsame Kirgisin in Militärkluft und
wartete still darauf, dass wir ihr unsere Pässe reichten. Anschliessend kam ein
männlicher, alkoholisierter Beamter daher und forderte uns auf, die
Zolldeklarationspapiere auszufüllen - "hier
Name, hier Datum und Unterschrift, ja, ja, das reicht schon." Nachdem
wir ihm unseren Coverletter gereicht hatten, war er zufrieden und mit einem
"Dawai, dawai" wurden wir
nach China geschickt. Das ging ja einfach, und wir waren erstaunt, dass sie uns
die Passhöhe mit dem Fahrrad zurücklegen liessen. Nach einigen Kilometern
passierten wir den ersten chinesischen Kontrollposten und fuhren hinunter, vorbei
an der Lastwagenkolonne zu einem weiteren Kontrollposten. Herumstreunende Hunde
und verlotterte Gebäude erweckten nicht gerade den Eindruck eines sich im
wirtschaftlichen Aufschwung befindenden Staates. Hier trafen wir wieder auf die
Touristen in ihren Fahrzeugen und beneideten sie um ihren chinesischen Guide.
Die zierliche Frau übersetzte uns, was uns die Grenzsoldaten zu sagen hatten:
Bis hierher und nicht weiter, falls euer Taxifahrer nicht mit dem Permit
auftaucht. "Good Luck" wünschte uns die Chinesin und
fuhr mit ihren Klienten davon. Wir schluckten leer und warteten. Wie abgemacht,
um Punkt zwölf Uhr tauchte aber dann unser Fahrer auf der anderen Seite der
Grenze auf. Er übergab den Soldaten unser Permit und nun plötzlich schienen sie
sich auch für uns zu interessieren. Die jungen Männer scharten sich um unsere
Fahrräder und begutachteten jedes einzeln. Nach einem für uns unverständlichen
Befehl des Oberst stellten sich die Soldaten plötzlich vor uns in einer Reihe
auf. Überrascht taten wir es ihnen gleich und stellten uns ihnen gegenüber in
eine Reihe. Äusserst erstaunt rechneten wir mit einer Begrüssungszeremonie für
Schweizer Tourenradfahrer, doch nach einem erneuten Befehl des Oberst machten
die Soldaten vor unseren Augen rechtsumkehrt und marschierten in einer Reihe ab
in ihre Kaserne. Wir verstanden nichts mehr und wandten uns fragend an unseren
Guide: Entnervt erklärte er uns, dass jetzt Mittagspause sei, und wir noch eine
Stunde länger warten müssten...
Die Stunde war bald um und wir waren
an der Reihe und wurden durchgeschleust. Doch leider blieb Christofs Dolch dank
des mobilen Gepäckscanners nicht unentdeckt. Mit elf Zentimetern war er gerade
einen Zentimeter zu lang um nicht als tödliche Waffe eingestuft zu werden, und
nach chinesischem Gesetz musste er dem Besitzer aus diesem Grund entwendet
werden. Es half kein Bitten und Betteln - die Chinesen haben ihre Prinzipien
und Gesetze und daran gibt es nichts aber auch gar nichts zu rütteln. "This is our country" war die
endgültige und abschliessende Erklärung. Wir erhielten den Einreisestempel aber
trotzdem und stiegen wieder in unseren
Bus, in dem wir schliesslich - ohne Dolch - nach Kashgar transportiert wurden.
Müde, aber glücklich, es über die
Grenze geschafft zu haben, installierten wir uns in unseren Hotelzimmern und
betraten hungrig ein chinesisches Restaurant. Ein Chinese, der gleich hinter
der Eingangstür an seinem Tisch sass, zog mit rotzendem Geräusch dicken,
festhockenden Schleim die Nase hoch, wartete bis sich alles in seinem Mund zu
einem Ballen geformt hatte und spuckte das Produkt genüsslich auf den weissen
Plattenboden aus - direkt vor unsere Füsse. Nĭ hăo
- welcome to China!
Obwohl Kashgar, die Hauptstadt der Uighuren
Provinz Xīnxiāng, noch sehr viel Ähnlichkeit mit
den Zentralasiatischen Ländern hat, war doch der Puls ein anderer. Der Einfluss
der Han-Chinesen war bereits deutlich zu spüren, alles war grösser, ging
schneller und lief organisierter ab, als wir es in den letzten paar Monaten
erlebt hatten. Wir liessen uns von den verschiedenen neuen Eindrücken berieseln
und bereiteten uns auf den Kulturschock vor, der uns bald erwarten sollte: Da der
Westen dieses riesigen Subkontinenten vor allem aus Wüste besteht und Tibet im
Moment für Individualtouristen auf dem Fahrrad gesperrt ist, entschieden wir uns
den Zug zu nehmen, und den Herbst in Sìchuān
und Yúnnán zu verbringen. Dank der
professionellen Unterstützung von Abdul Wahab und seiner Crew konnten wir
unsere Fahrräder problemlos bei der Chinesischen Post aufgeben und nach Chéngdū verschicken
lassen. Unser Zug fuhr erst am nächsten Tag ab, dies gab uns Zeit die
chinesische Essensversorgung ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Na
ja, so genau wollten wir es eigentlich dann doch nicht wissen. Im Supermarkt
wurden neben undefinierbar schwarzen Hühnchen auch einzelne Kaninchenköpfe und
Schildkröten verkauft, am Nachtmarkt gab es Innereien und Kalbsköpfe, und das
Speiseöl zur Zubereitung wird "der Umwelt zu liebe" beim nächsten
Gulli wieder aus der Kanalisation gefischt, rezykliert und dem nächsten Koch
weiterverkauft.
Eindrücke vom Nachtmarkt in Kashgar:
Am nächsten Tag begaben wir uns, jeder mit sechs oder mehr
schweren Velotaschen beladen an den Bahnhof, wo uns unser Zug erwartete. Unsere
Tickets und Pässe wurden mehrmals kontrolliert und unser Gepäck gescannt (wobei
nun Christofs gefährlich leicht entflammbare Leimtuben ein Problem darstellten:
"This is our country!"...) bevor
wir den Zug besteigen durften. Die nächsten 24 Stunden fuhren wir zu viert in
einem Soft Sleeper Abteil nach Turpan,
wo wir mit einiger Verspätung ankamen. Eine halbe Stunde zum Umsteigen reicht
normalerweise bei Weitem aus, nicht aber in China: Wir mussten unser gesamtes
Gepäck aus dem Bahnhofsgebäude schleppen, eine Tür weiter rechts wieder ins
Gebäude hineintragen, scannen lassen und uns in eine lange Schlange stellen,
die erst ca. 10 min vor Zugsabfahrt aufs Perron entlassen wurde. Ich war die
letzte, die noch durch die Drehtür durchgelassen wurde, hievte all meine
Taschen irgendwie hoch und kam irgendwann auf dem Perron an. Laut schnaubend machte
ich der Lokomotive Konkurrenz, worauf ein Schaffner mir mitleidig oder unter
Zeitdruck stehend zwei Gepäckstücke abnahm, und sie dann ebenfalls schnaufend nach
mir in Wagen 12 verfrachtete. Kaum war ich drin, fuhr der Zug auch schon auf
die Minute genau ab.
die grosse Mauer haben wir auch gesehen! |
Unsere Schlafplätze befanden sich im offenen Hard Sleeper
Abteil, welches vielen Chinesen während 48 Stunden die Gelegenheit gab mehrmals
"unauffällig" bei uns vorbei zu schlendern und noch
"unauffälliger" zu beobachten, was diese Westler denn hier so
trieben. Unsere Nachbarn hingegen wurden von Stunde zu Stunde mutiger und sprachen
uns sogar an. Auch wir versuchten das Gespräch aufzunehmen, als wir an riesigen
Ölfeldern vorbeifuhren, doch die Antwort auf "Benzin?" war einfach "Ha? Beijing?" und so liessen wir es
bleiben. Trotzdem blieben wir ziemlich interessant, und irgendwann machte es
uns auch nichts mehr aus, wenn uns beim Lesen eines sms vier Chinesen über die
Schulter blickten und hemmungslos mitlasen. Nach insgesamt drei langen Tagen
und Nächten fuhren wir im Bahnhof Chéngdū ein (Vergleich mit Europa: die
Strecke, die wir zurückgelegt haben entspricht mit 4300 km etwa der Strecke
Rom-Nordkap; Vergleich mit der Schweiz - auf einer Zugfahrt von Bern nach Basel
würden bereits alle in Zollikofen ihr Gepäck vorbereiten und noch ein letztes
Mal zur Toilette gehen). Da unsere Gepäckmenge nicht der chinesischen Norm
entsprach und deshalb öfters für Kopfschütteln sorgte, hiess uns die uniformierte
Schaffnerin des Wagen 12 unser Gepäck bereits vor allen anderen zur Zugtür zu
schleppen. Dies taten wir folgsam aber ebenfalls kopfschüttelnd (Chéngdū war schliesslich
Endbahnhof). Die Schaffnerin des Wagen 12 rechnete aber nicht mit der stämmigen
Schaffnerin des Wagen 13: Als diese die zugepackte Tür sah, holte sie tief Luft
und keifte uns gellend an, so dass die Zugsfenster klirrten. Wir verstanden nur
Chinesisch und Domi, als vorderster Mann, steckte sich als erste Reaktion die
Finger in die Ohren. Nachdem auch das Echo verhallt war, und unsere
Trommelfelle sich wieder erholt hatten, verschoben wir unsere Taschen an einen angebrachteren
Ort. Schliesslich kamen wir in der Hauptstadt Sìchuāns an und nahmen ein Taxi zu unserem Hostel, wo wir die
nächsten vier Tage auf unsere Fahrräder warteten, viel assen (mit "viel scharf" und noch mehr betäubendem Sìchuān-Pfeffer - huiiiii, wie das prickelt im Mund!) und ein bisschen
Sightseeing machten.
Eindrücke aus Chéngdū:
ohrenbetäubend laute Tanzkunst im sonst idyllischen People´s Park |
vergängliche Gedichte |
Im taoistischen Tempel |
Blick aus dem Hostelfenster - Hochhäuser so weit das Auge reicht |
GMP - gruesome manufacturing practice |