Samstag, 20. Oktober 2012

Auf, in die Stadt am schönen Fluss am Fusse des Jadedrachen Schneebergs

TCM

Mit dem neuen Visum im Sack gönnten wir uns in Xīchāng noch einen letzten, richtigen Ruhetag, den wir mit durch die Stadt schlendern und gut essen verbrachten. Der Gang durch das Altstadtviertel Xīchāngs holte uns aber dann wieder aus der modernen Zivilisation mit ihren Fast Food Ketten, Shopping Malls und vielspurigen Strassen zurück ins ursprünglichere China, wo Kleider am Brunnen von Hand gewaschen und Kinder zum Pinkeln vor die Haustür gehalten werden, wo die Zukunft aus der Hand gelesen und Medizin auf der Strasse ausgebreitet und verkauft wird.

Die traditionelle chinesische Medizin kennt mehrere Tausend verschiedene Kräuter und Ingredienzien, welche in Vielstoffgemischen gegen allerlei Leiden eingenommen werden. Auch tierische Produkte werden immer noch gerne verwendet, obwohl viele der wirksamen Inhaltsstoffe mittlerweile synthetisch hergestellt werden könnten. Die Chinesen glauben, dass nur mit dem "echten" Produkt auch die Eigenschaften des jeweiligen Tieres auf den Patienten übertragen werden. So werden Millionen von Wildtieren immer noch jedes Jahr zu Salben, Tinkturen und Pulvern verarbeitet, Bären um deren Gallensaft wegen "angezapft" und Tiger regelrecht zerlesen, um allerlei "potente" Arzneien herzustellen. Der Handel mit bedrohten Tierarten ist zwar offiziell schon lange verboten, aber das kümmert hier vor Ort scheinbar die wenigsten: In schmucken Läden werden getrocknete Seepferdchen zum Verkauf angeboten und auf der Strasse erhält man getrockneten Tigerpenis und sehnige Tigerpranken - diese entweder am Stück, oder als einzelne Krallen. Illegal? Schwarzmarkt? - es kommt einem nicht so vor. Ein Foto zu schiessen wird uns dann aber unter heftigem Abwinken doch nicht erlaubt...



auch Medizin
Auch beim Essen legen die Chinesen grossen Wert auf die körperbeeinflussende Wirkung der Nahrung: Hier wird nicht wie bei uns nur noch das Beste des Tieres herausgepickt, sondern meistens das ganze Schlachtgut verwertet. Innereien, Hirn und Auge werden ebenso gegessen wie Speck und Filet, um die Tätigkeit der entsprechenden eigenen Körperteile positiv zu unterstützen. So gesehen war es auch nicht verwunderlich, als eine junge Mutter ihrem kleinen Buben anstatt dem leckeren "Fischbäggli" als erstes das Fischauge verfütterte - schliesslich soll das Kind später mal keine Brille tragen müssen. Nach einem westlichen T-bone Steak an Pfeffersauce und Pommes Frites verliessen wir also die Grossstadt wieder und fuhren in die umliegenden Hügel. 







typisches Haus der Yi
Dicht besiedelte Vororte verdünnten sich und liessen den verstreuten Yi-Dörfchen inmitten üppig grüner Natur Platz. Hie und da begegneten wir noch Granatapfelverkäufern am Strassenrand oder Bauern bei der Mais- und Reisernte, bis es schliesslich nur noch wir, die neue, asphaltierte S307 und die uns überholenden, laut hupenden Chinesen waren. Zum nächsten Pass sollten es noch ein paar hundert Höhenmeter sein - doch was gehört zu einer perfekten, neu asphaltierten, chinesischen Strasse? Genau - ein Tunnel. Unzählige dieser oft kilometerlangen, stickigen, schwarzen Löcher ohne Ventilatoren bereiteten uns schon Unbehagen durch meist unebenen Strassenbelag und zuweilen sogar Abzweigungen, die uns in der Dunkelheit überraschten. Die Tunnels der neueren, beleuchteten Sorte sind aber meistens eine wahre Freude - ersparen sie uns doch in dieser hügeligen Landschaft einige anstrengende Höhenmeter. 

Wie so oft, wartete auch bei diesem Pass auf der anderen Seite ein neues Landschaftsbild: Eine andersartige Vegetation zeugte von völlig neuen klimatischen Bedingungen. Das feuchtwarme Klima ermöglicht hier am Yalong Fluss das Wachstum von Bananenpflanzen und Kakibäumen, die mit ihren reifen Früchten die sonst grünen Gärten mit leuchtend orangen Farbtupfern verzieren. Ich freute mich aber, dass uns unsere Route ohne grosse Umwege wieder in die Höhe führte - Fahrradfahren in dieser schwülen Hitze ist ziemlich anstrengend (wer es gerne ausprobieren möchte trage seinen Hometrainer ins Tropenhaus des botanischen Gartens und strample eine Stunde - das käme der Sache wohl in die Nähe).

In einem grösseren Dörfchen fanden wir, umringt von staunenden und lachenden Kindern, ein günstiges Hotel. Das Zelt und auch den Benzinkocher haben wir hier in China schon lange nicht mehr gebraucht. Es findet sich praktisch in jedem kleinen Nest irgend eine günstige Unterkunft, die immer alles hat was wir benötigen: zwei mehr oder weniger saubere (zwar oft brettharte) Betten, fliessend Wasser (meistens Dusche und Toilette auf dem Zimmer) und heisses Wasser für Tee und Kaffee - dies alles für 3 - 8 Franken pro Person - je nach Standard. Auch das Essen ist hier so gut und günstig, dass wir uns nur noch ab und zu unser Frühstück selbst zubereiten. Doch auch hier ziehen wir die Nudelsuppe und Gŏubulĭ bāozi (wörtlich übersetzt: Fleisch- oder Gemüsegefüllte Dampfteigklösse, die die Hunde ignorieren) dem gezuckerten Instant Oatmeal und hartgesottenen Eier aus dem Wasserkocher vor. Um ein gutes Zmittag unterwegs geniessen zu können fehlt uns ein bisschen (ok, "bisschen" ist stark untertrieben - obwohl das chinesische Essen zum leckersten auf unserer Reise gehört, denken wir pausenlos an Berner Ankezüpfe mit Ballmooserhonig und frischem Öpfuchueche mit Nidle) das Brot und richtige Sandwichzutaten und so tanken wir unsere Energie jeweils verteilt auf mehrere, kurze Stopps mit Hilfe von verschiedenen Früchten, Nüssen und süssem Gebäck. Zum Znacht besuchen wir praktisch an jedem Abend ein chinesisches Lokal, in welchem wir für 6 Franken pro Person viel Reis und meist drei Gerichte bestellen. Nachdem wir allerdings hier in Pingchuang die Kellnerin für uns haben auswählen lassen und danach Schweinenieren und -magen erhielten (selten so was zähes gegessen), wandten wir uns rasch wieder unserer altbewährten Methode zu - bestellen was auf dem Nachbarstisch steht. Doch auch dies kann in die Hosen gehen: Was von weitem herrlich duftet oder aussieht wie gebratene Bohnen, entpuppt sich schnell einmal als in Öl gebratenes Schweinefett und Korianderlaub auf Korianderwurzeln an einer glutamatgeschwängerten Sojavinaigrette. Doch wer radelt hat Hunger und so essen wir meistens tapfer alles auf - dass die meisten Chinesen einen riesigen Anstandsrest zurücklassen, kümmert uns nicht - wir brauchen die Energie.

Chilliernte
fruchtbare Hochebene bei Yanyuan
Die nächsten 1500 Höhenmeter hinter uns lassend, öffnete sich vor uns unerwartet eine riesige, fruchtbare Hochebene. Bananenpflanzen waren Eukalyptusbäumen gewichen, ringsherum wurde fleissig Landwirtschaft betrieben und unter den Bauern herrschte Hochbetrieb - es war die Zeit der Ernte. In Einfahrten und Garagen, auf Schulhöfen und nicht selten mitten auf der Strasse waren Maiskörner, Nüsse, Reis und Chillischoten zum Trocknen ausgebreitet und entlang der Strasse verkauften Yi-Chinesen saftige Äpfel, und feine Mandarinen. 






Dörfchen
Nach der Hochebene folgte dann wiederum ein Flusstal, zur Abwechslung mal gesäumt von niederen Hügeln. Die wenigen Dörfer entlang der Strasse waren aufgrund der mit weisser Farbe umrandeten Ziegeldächer der Häuser oft schon von weitem sichtbar, doch zunehmend mischten sich nun auch einfache Blockhütten ins Dorfbild. Wir waren angelangt im Reich der Mosuo, eine der Naxi-Nationalität angehörende Volksgruppe, die sich vor allem durch ein Merkmal von den anderen chinesischen Ethnien unterscheidet: Hier haben die Frauen das Sagen.
Ausser politischen Angelegenheiten, dem Schlachten von Grossvieh und dem Ackerbau, kümmert sich bei den Mosuo die Frau um alles. In dieser matrilinealen Gesellschaft erledigt Sie den Haushalt, zieht die Kinder alleine auf und gilt als starkes Oberhaupt der Familie. Söhne bleiben im Haushalt der Mutter wohnen, wo sie ihr Unterstützung bieten und als "Onkel" bei der Erziehung weiterer Kinder in der Familie mithelfen. Im Erwachsenenalter besuchen sie des Nächtens ihre Geliebte in deren "Blumenzimmer", verlassen es aber bei Tagesanbruch wieder und kehren zurück in ihr Mutterhaus, wo sich das tägliche Leben abspielt. Bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder spielen die leiblichen Väter dann aber keine Rolle. Nur einmal im Jahr werden sie von ihren Kindern besucht, die ihrem Vater bei dieser Gelegenheit so ihre Ehre erweisen.

Mosuo-Frau mit Sohn am
Zubereiten unseres Znachts
In einem dieser kleinen Blockhüttendörfchen fragten wir nach einer Unterkunft und landeten so bei einer Mosuo-Familie, die eine kleine Herberge führt. Die energische Mutter zweier Söhne und einer Tochter nahm unseren Besuch zum Anlass ein Hühnchen zu schlachten. Wir verstauten erst unser Gepäck in unserem bescheidenen Zimmerchen mit Reisstrohmatratze, welches sich direkt über dem Zimmer einer Yi-Frau befand, die auf dem selben Raum mit ungefähr fünf Kindern lebte, und beobachteten anschliessend die Hausmutter beim Zubereiten des Znachts: Erst wurde der armen Henne bei lebendigem Leib die Federn am Hals gerupft, dann ritsch-ratsch-ritsch-ratsch mit einem stumpfen Messer die Kehle durchgeschnitten, das Blut in ein Schüsselchen gegossen und als die Henne ausgezappelt hatte, wurde sie mit brühendem Wasser übergossen, so dass sie ihre Federn besser losliess. Das geschlachtete Tier wurde nun sorgfältig ausgenommen, das ungelegte Ei kam zusammen mit dem gründlich gewaschenen Darm und anderen Innereien in ein zweites Schüsselchen. Bei so viel Sorgfalt zweifelten wir langsam daran, dass die Innereien an die Schweine verfüttert würden und warteten gespannt auf unser Nachtessen. 
in der Mosuo-Herberge
Bald einmal wurden wir zu Tisch gebeten. Zu sechst sassen wir auf kleinen Holzschemelchen um einen kniehohen Tisch, vor uns ein Schälchen mit Blutpudding, und zwei Schälchen mit gehacktem Huhn (die mühevolle Arbeit Knochen zu entfernen wird hier gerne ausgelassen. Vom Kamm bis zur Klaue - es landet alles im Topf). Den Darm rasch identifiziert und grosszügig beiseite lassend stocherten wir in den Schälchen herum, bis wir ein Stück Fleisch zwischen den Stäbchen hatten und dieses in unser Reisschälchen sichern konnten. Nur zu gerne hätte ich der gastfreundlichen Frau gesagt, dass wir doch unser Pouletbrüstchen vakuumverpackt in der Migros zu kaufen gewohnt sind. Glücklicherweise gab es auch noch rohe Kartoffelrösti dazu, die gleich vor meinem Reisschälchen stand. Der besorgten Frau entging aber nicht, dass ich des Öfteren nach den Kartoffeln pickte und bot mir die besten und nützlichsten Teile vom Huhn an. Ach, hätten wir doch Kontaktlinsen getragen...


Nachdem wir unsere Bäuche mit Reis, Kartoffeln und der Hühnersuppe gefüllt hatten, legten wir uns schlafen und machten uns am nächsten Tag wieder auf den Weg, der uns an den Lugu-See führte. Hier leben die meisten der Mosuo, doch von der ursprünglichen Kultur ist nicht mehr viel zu sehen. Diese einzigartige, matriarchale Gesellschaft, die hier in dieser romantischen Umgebung lebt, lockte den chinesischen Massentourismus an und so grenzt nun ein Hotel oder Guesthouse ans nächste. Trotzdem genossen wir die zwei Rad-und Wandertage am Lugu-See zusammen mit vielen anderen chinesischen Touristen und tankten neue Energie und viel goldene Herbstsonne. 

Lugu See


"Romantik pur" am Lugu See













Reisanbaugebiet vor Ninglang
Als wir über die westliche Hügelkette nach Yúnnán radelten, wartete dort bereits das nächste Flusstal auf uns. Lehmdörfchen und wiederum mit alten Ziegeln bedeckte Häuser schmückten die grünen Berghänge und im weitläufigen Tal trafen wir auf emsige Chinesen bei der Reisernte. Da wir uns wider Erwarten plötzlich auf einer neuen Strassenführung bewegten, erreichten wir unser Ziel, Nínglàng bereits am frühen Nachmittag.





Bauern bei der Reisernte

Am nächsten Tag ging´s dann los auf über 3000 m.ü.M. wie gewohnt durch sehr ländliche Gegenden. Desöfteren nervten uns aber die psychopathischen Hunde, die ihren Hof am Strassenrand bewachten. Uns zwar meistens nur bis zu den Knien reichend, bellten sie schon energisch drauf los, sobald sie uns um die Kurve entgegenkommen sahen. Die glücklichen unter ihnen, die nicht angebunden waren, hetzten dann in unsere Richtung und zwangen uns zum Anhalten und Absteigen. Während Domi unser Revier, die Strasse, mit Geschrei, Andeuten eines Stockes, und im schlimmsten Fall Steinen als Wurfgeschoss gegen die wütenden Tölen verteidigte, schlich ich mich jeweils im Schritttempo davon. Gebissen hat noch keiner, doch es ist wahrlich eine Kunst, bei einer rasanten Talfahrt das Gleichgewicht nicht zu verlieren, wenn so ein Biest aus heiterem Himmel plötzlich aus dem Gebüsch auftaucht, dir wie ein geölter Blitz hinterherjagt und sich vorher nicht einmal durch Bellen bemerkbar macht, sondern alleine durch das hastige Schürfen der Krallen auf dem Asphalt verrät, dass er bereits bis zu deinen Hinterradtaschen aufgeholt hat. Da hilft nur - noch schneller in die Pedale treten und erst nach der nächsten Kurve durchatmen.


reicher Ertrag
Aussicht vom Pass - im Hintergrund
der Jadedrachenschneeberg









Yangtse am Spätnachmittag...

...und am nächsten Morgen













Nach einer rasanten Talfahrt erreichten wir am Abend den mächtigen Yangtse. Wir fanden ein einsames, aber perfekt gelegenes Hotel einer Naxi-Familie, assen altherkömmliche, chinesische Kost (will heissen:  Seit neustem stehen auch frittierte Bambusmaden auf der Speisekarte, für die wir allerdings nicht mutig genug waren) und waren im Bett kaum als die Sonne hinter den Berggipfeln verschwunden war. 


18 Haarnadelkurven später
Die nächste Bergetappe nahmen wir dann eine Stunde früher als gewohnt in Angriff, genossen die 18 Haarnadelkurven aus der Yangtse-Schlucht heraus, die anschliessende 20 km lange Staubpiste dann weniger, und erreichten das Städtchen Lìjiāng, die Stadt am schönen Fluss am Fusse des Jadedrachenschneeberges. Und wenn man die Grösse Chinas und die anders gewählten Routen bedenkt gilt es immer noch als vortreffliche Schweizer Pünktlichkeit: Zwei Stunden später trudelten Marianne und Tobias ein...



Mittwoch, 10. Oktober 2012

Über und in den Wolken von Sichuan


Kaum hatten wir uns in Sim´s Cosy Garden Hostel in Chéngdū eingenistet, wartete bereits das nächste Projekt auf uns: Essen. Da wir von der langen Zugfahrt ziemlich erschöpft waren, trugen uns unsere Beine nur gerade ins gemütliche Restaurant unseres Hostels, wo Domi Sweet & Sour und ich mir Gōng băo Chicken bestellte. Dass die Sìchuān-Küche wirklich nichts für empfindliche Geschmacksknospen ist, wurde mir rasch klar, als ich mit hochrotem Kopf und nach Luft schnappend inmitten feinst geschnittener, feurig scharfer Chilli-Schoten das Hühnchen, die Gurken und die Erdnüsse suchte.

Doch das war erst der Anfang. Am nächsten Abend testeten wir den Sìchuān Hot Pot - Ursprung unseres Fondue Chinoise. Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Pilze, Gemüse und sonst alles was einen gelüstet, wird in einen Topf mit heissem, würzigem Öl oder Suppe gegeben, anschliessend in eine frisch zubereitete Sauce aus Soja-Sauce, Sesamöl, frisch gehacktem Knoblauch, geschnittenem Koriander und einer gehörigen Portion Glutamat (wird hier treffenderweise Gourmet-Powder genannt) getaucht und gegessen. Was natürlich auch nicht fehlen darf, ist der Sìchuān-Pfeffer, ein gewöhnungsbedürftiges Gewürz, welches wir in unserer westlichen Küche bisher kaum kennen. Ein leicht säuerlich-frischer Geschmack wird je nach Anzahl Körner gefolgt von einem leicht bis stark prickelnden Gefühl bis hin zur totalen Gefühlslosigkeit der Mundhöhle. Zur Erholung von Scharfem und Prickelndem gönnten wir unseren Schlündern dann wieder Süsses, fettig Frittiertes oder Gedämpftes, und sonst so was hier ziemlich an jeder Strassenecke gekauft werden kann. Gebratene Kaninchenköpfe, Schweineohren und Hühnchenfüsse zum Knabbern liessen wir aus...

Nachdem wir einen daoistischen und einen buddhistischen Tempel besucht hatten, zwischen riesigen Wohntürmen und Hochhäusern herumspaziert waren und uns in einem Meer von Elektro-Scootern treiben liessen, war es an der Zeit in etwas ländlichere Gegenden weiter zu ziehen. Doch es dauerte einen Fahrradtag, bis Christof und Esther und wir aus der städtischen Zone heraus waren. In Dūjīangyàn nahmen wir uns ein Hotelzimmer mit chinesischem Frühstück für 200 Yuan (CHF 31) und trauten unseren Augen kaum, als wir die Zimmertür öffneten. So ein Luxuszimmer hatten wir seit dem Iran nicht mehr! Bevor wir also unsere Zelte wieder öfters aufstellen würden, genossen wir hier noch einmal richtigen Luxus. Wir fanden, dass dazu auch ein anständiges Abendessen gehörte und suchten ein gutes Restaurant auf. Wie so ziemlich überall wo wir auftauchen, verstummten auch hier die Gespräche, alle Augen auf uns gerichtet. Wir grüssten freundlich, ernteten viel Lächeln und ein "Hallu?" oder "Chello!"und die Leute widmeten sich wieder ihren Tischnachbarn und dem Essen. Nachdem uns die Kellnerin die Karte gereicht hatte, wurde uns rasch klar, dass wir so nicht weiter kamen und bestellten kurzerhand das Fischgericht, welches bei unseren Nachbarn auf dem Tisch stand und deuteten auf verschiedene Zutaten in der Küche, aus denen der Koch uns dann ein leckeres Gericht zauberte. Dies sollte unsere Hauptstrategie werden in China an geniessbares Essen zu kommen. Die netten Tischnachbarn boten uns später noch etwas von ihrem Wein (50%iges Feuerwasser!) an, den Christof als erster kostete. Durstig wie er war, kippte er das erste Glas in einem Zug hinunter, und das zweite ebenfalls. Unsere chinesischen Tischnachbarn lachten laut auf, riefen "velly good, velly good!", unterhielten sich angeregt und fragten dann, nachdem sie einige Wörter zu einem Satz gebüschelt hatten: "Ale you Lussian?" Wir verneinten, versuchten ihnen auf Chinesisch mitzuteilen, dass wir aus der Schweiz sind (klappt in den wenigsten Fällen, obwohl wir nie kapierten warum sie unser "Ruìshì" nicht verstehen... vielleicht sollten wir das nächste Mal anfügen Logel Fedelel...) und schauten zu, wie sie uns "Wein trinken auf Chinesisch" vordemonstrierten: Vorsichtig nippend und schlückchenweise.



Bisher fühlten wir uns ja auf jeder Etappe unserer Reise noch ein bisschen daheim, denn die Umgebung - die Leute und die Natur um uns herum veränderten sich mit jedem Kilometer, den wir hinter uns liessen entsprechend langsam. So blieb eigentlich immer alles "normal". Doch nun, nachdem wir eine beachtliche Strecke mit dem Zug zurückgelegt hatten, erlitten wir einen Schock: Von der Trockenheit Zentralasiens wurden wir in das feuchte Klima Südwest-Chinas katapultiert. Überall wo wir hinsahen, floss Wasser, dem Geröll und der Erde auf der Strasse entsprechend ab und zu auch zu viel, dichter Regenwald überzog die Berge, die hoch über unsern Köpfen endlos im Nebel verschwanden. Zikaden zirpten im Dschungelbeat und handgrosse Schmetterlinge tanzten dazu im Wind und irgendwo da draussen waren sie und warteten darauf gefunden und geknuddelt zu werden - die riesigen, bambusschmatzenden Pandas. Ein bisschen wehmütig zwar den Vegetationswechsel verpasst zu haben, doch bereit neues zu erleben, fuhren wir weiter, in Richtung tibetisches Hochplateau.



Da wir aufgrund unseres 30-Tage Visums etwas unter Zeitdruck standen, hatten wir unsere Tagesetappen vorgeplant, doch dieser Plan war schon nach dem ersten Tag in den Bergen Sìchuāns zum Scheitern verurteilt - die Strasse war zu schlecht um schnell vorwärts zu kommen. Anstatt nach Wòlóng reichte es nur bis Gengda, wo wir in einem nigelnagelneuen Hotel einquartiert wurden - die Matratzen und Bettlaken waren alle noch in Plastikhüllen eingepackt. Am nächsten Tag fuhren wir weiter das grüne Flusstal hinauf, bis an den Fuss unseres ersten Viertausenders, leider ohne einen einzigen Panda gesichtet zu haben. Die Bären seien momentan alle in den Bergen, hiess es am Tor zum Reservat. Etwas enttäuscht kamen wir zuhinterst im Tal an. Dort gab es weder Hotel noch gescheiten Zeltplatz und nach ein paar Brocken Chinesisch und viel Pantomime durften wir in einem nigelnagelneuen Wohnhaus in der Eingangshalle übernachten. Überhaupt gibt es viel Nigelnagelneues in China - unglaublich, wie viele Baustellen - seien es Häuser, Strassen oder sonstige Infrastrukturprojekte - wir jeden Tag sehen.

Von unserem Viertausender am nächsten Tag kriegten wir aber ausser dem Sauerstoffmangel nicht viel mit: Während wir 34 km ganz ohne zusätzlichen Sauerstoff (am Strassenrand lagen etliche leere Sauerstoff-Dosen) in den Himmel hinauf fuhren, umgab uns dichtester Nebel. Obwohl psychologisch ganz wertvoll (die endlosen Haarnadelkurven über uns blieben verborgen) beraubte uns der Nebel der Aussicht auf die umliegenden Berge oben auf dem Pass. So verloren wir nicht viel Zeit in der Höhe und fuhren auf der anderen Seite runter ins Tal - wo die Sonne schien! Endlich, seit Kashgar sahen wir zum ersten Mal wieder die Sonne, die das Tal, die Wälder, die Berge in schönes, warmes Herbstlicht tauchte.


Der hohe Pass, der die beiden Flusstäler voneinander trennt, ist wohl öfters die Grenze zwischen Nebel und Sonnenschein: Während auf der fernen Seite vor allem exotische Pflanzen und moosbewachsene Tannen die Berghänge bedecken, wachsen hier fast nur europäisch wirkende Nadelwälder.




Wir genossen die Abfahrt nach Rìlóng, wohlwissend, dass wir noch einmal 200 Höhenmeter zu bewältigen hatten. Doch mit einer Extra-Portion Sonne sollte das kein Problem mehr sein. So kurvten wir auf endlosen Serpentinen hinunter ins Tal, wo wir plötzlich, inmitten grüner Terrassen-Hänge ein Städtchen erblickten. Konnte das schon Rìlóng sein? Wo war denn die Gegensteigung? Der Grund ist folgender: Die chinesische Karte in google.maps ist aus einem unerklärlichen Grund systematisch um einen unbekannten Faktor verschoben. So führt uns unsere Routenplanung nun nicht immer genau entlang der Hauptstrasse, sondern öfters über irgendwelche Erhebungen, die sich einige 100 Meter neben der Strasse befinden, so dass unsere Tagesetappen im Computer dann meistens anspruchsvoller erscheinen als sie in Wirklichkeit sind. Wir nehmen es gelassen - der Fehler sorgt meistens für positive Überraschungen. Mit dem Viertausender in den Beinen und aufgrund Esthers und Domis Erkältung wollten wir uns zwei Ruhetage gönnen: zweimal knapp 60 km abwärts und dann Hotelzimmer geniessen. Sowieso blieb unser Zelt öfters ungebraucht, da es hier erstens praktisch in jedem Kaff eine Unterkunft gibt, und diese dann meistens auch sehr preisgünstig ist, so dass wir uns diesen "Luxus" leisten können. Ausserdem fehlt es hier schlicht und einfach auch oft an guten Campingmöglichkeiten. Die Täler sind meistens so schmal, dass neben Fluss und Strasse nicht mehr viel Platz bleibt zum Zelten.











So liessen wir unsere Beine hängen und rollten gemütlich nach Xĭaojīn, vorbei an Qiang-Dörfern (die Qiang sind eine chinesische Nationalität, die eng verwandt ist mit den Tibetern. Die Frauen tragen ihre Haare zu langen, schwarzen Zöpfen geflochten in ein schwarzes Tuch gewickelt, an welches je nach Wohlstand viel oder wenig farbenfroher Schmuck geheftet wird. An ihren Kleidern taucht immer wieder die Farbe Blau auf.), mit ihren dreistöckigen festungsähnlichen Steinhäusern und den hohen Diaolou - Wehrtürmen, die gleichzeitig als Korn und Holzspeicher dienen. In Xĭaojīn holten wir uns alle einen Sonnenbrand beim Hotelzimmer suchen, die Auswahl war schlicht zu gross. Schliesslich fanden wir ein günstiges Apartment für uns vier mitten im Zentrum, direkt über dem Basar - ein Wecker am nächsten Morgen war überflüssig. 

Wir verbrachten den restlichen Nachmittag mit durch die Stadt Schlendern und Überlegen, wo wir zu Abend essen wollten. Weder Christof und Esther noch wir hatten ein Restaurant entdeckt, nur die Handvoll obligatorischer Nudelbuden. Beim Diskutieren bemerkten wir plötzlich, dass direkt unter unserem Zimmerfenster lauter Zelte aufgestellt wurden. Zu den Zelten kamen Grillstände, die nach und nach mit leckeren Spiesschen aus Hühnchen, Lamm, Rind, Schweinefleisch, Pilzen in allen möglichen Formen (Geschmack ist praktisch immer derselbe), Lotuswurzeln, Kartoffeln, Tofu, Meeresfrüchten u.v.m. belegt wurden... Unsere Diskussion war beendet.











Auf unserer nächsten Etappe machten wir einen kleinen Abstecher in einen tantrischen (lamaistischen) Tempel (er lag direkt an der Strasse). Ich wurde von einem der anwesenden Buddhisten instruiert, wie man korrekt beim Gebetsritual vorzugehen hatte: Als erstes wurden Räucherstäbchen angezündet, die man bei drei Verbeugungen in eine Mauer vor dem eigentlichen Tempel steckte. Dann häuften wir Karma an, indem wir dreimal im Uhrzeigersinn um den Tempel gingen und dabei die goldenen Gebetsmühlen drehten. Der Buddhist schenkte mir anschliessend einen Stapel Windpferdchen (kleine, farbige, mit Mantras bedruckte Papierchen, die auf einer Erhöhung schwungvoll in den Wind geworfen werden und die dann in alle Richtungen wegfliegen sollten - ebenfalls zur Anhäufung des Karmas). Ich warf den Stapel hoch über den Kopf, und als Stapel landete er wieder unten an der Treppe. Voller Schock fürchtete ich schon um mein Karma und sah es dahinschmelzen wie Yakbutter, doch der Mann lachte laut, reichte mir noch einen Stapel und zeigte mir wie man es richtig machte. Auch die unzähligen Gebetsfahnen in den Farben des Himmels, der Wolken und der Reinheit, des Feuers, des Wassers und der Erde, die neben und über uns im Wind tanzten bereicherten zahlreiche Menschen bei jedem Flattern mit mehr und noch mehr Karma (Gebetsfahnen werden alternativ verwendet um Gegenstände zu segnen und schützen, wie Häuser oder einsturzgefährdete Brücken oder Felsen).



















Nach der Übernachtung in Dānbā war das gemütliche Abwärtsrollen vorbei und es ging die nächsten zwei Tage wieder bergauf, der nächste Pass wartete auf 3900 m.ü.M. Doch erst sollte uns die Strasse an einen Strand mit roten Steinen und anschliessend zu heissen Quellen führen, wo wir übernachten wollten. Wir schauten immer wieder hinunter zum Bach, und ja, die Steine waren etwas orange - aber rot? Irgendwann entdeckten wir am anderen Ufer einen eigenartigen Felsen aus dem aus einer Röhre Wasser sprudelte. Konnte das die heisse Quelle sein? Wir überquerten nacheinander langsam den schmalen Baumstamm, der über den reissenden Bach führte (kein Seil woran man sich festhalten konnte, nasskaltes Wetter, das das Holz glitschig machte, Cleats an den Fahrradschuhen - was will man mehr?) und wurden bitter enttäuscht - das Quellwasser war tatsächlich schön warm und stank nach Schwefel, doch rund herum war alles so zugemüllt, dass an gemütliches Zelten nicht zu denken war. Wir balancierten wieder zurück zu unseren Rädern und fuhren weiter. Ein paar Stunden vor Sonnenuntergang blieben uns noch um ein besseres Zeltplätzchen zu finden. Doch wie bereits erwähnt, diese sind hier spärlich gesät. Wir fuhren weiter und weiter, immer höher hinauf, die 3000er Höhenlinie lange hinter uns gelassen. Während die Jungs stramm weiter strampelten, setzte bei Esther und mir definitiv die Erschöpfung ein. Uns war bereits jeder Platz recht um unser Zelt aufzuschlagen - wir konnten bald nicht mehr. Nur noch die nächste Kurve - und da sahen wir sie - Unmengen flatternder Gebetsfahnen, an Schnüren hoch oben an den Berg befestigt. Wir gingen näher hin und sahen vier Jungs, die am Rand eines mit Wasser gefüllten Beckens Hühnchenfüsse knabberten. Die heissen Quellen! 

Auch hier mussten wir erst unseren Mut beweisen, indem wir den Bach über einen schmalen Baumstamm überquerten, doch die Männer übernahmen glücklicherweise den Part mit den Fahrrädern. Wir stellten unsere Zelte neben die zwei grossen, ausbetonierten Becken, in die direkt aus dem Berg heisses Wasser floss. In beiden Becken schwamm Müll, doch es war bei weitem nicht so schlimm, wie bei der unteren Quelle. Die vier Jungs zeigten uns, wie man das eine Becken leeren konnte, um frisches Wasser einzulassen, was Christof dann auch festentschlossen tat (er hat definitiv das Zeugs zum Bademeister). Das sauber geschrubbte Becken mussten wir dann wieder mit dem "Stöpsel" verschliessen (Jacken, Hosen, Tücher, Plastikplanen, Grasbüschel, Steine). Leider war das Becken zu gross und auch am nächsten Morgen noch weit davon entfernt gefüllt zu sein. Wir assen Nudelsuppe und als uns die Dunkelheit umgab, hüpften wir ins andere heisse Becken, verdrängten, wie "sauber" wir das Wasser zuvor angetroffen hatten, und gönnten unseren geplagten Muskeln etwas Wellness. Die nächste Überraschung erwartete uns im Zelt - unsere Mätteli waren seltsam warm. Wir griffen darunter und stellten fest, dass unser Zelt eine natürliche Bodenheizung hatte. Dank des heissen Felsens schliefen wir in dieser Nacht auf über 3000 Metern nur im Seidenschlafsack. 




























So gut erholt hatten wir uns nur selten in einer Zeltnacht und so war der Anstieg zum nächsten Pass ein Klacks. Wir überholten die Yaks und fuhren hinunter in die Steppen von Tagong, wo wir uns einen Yakburger gönnten und in einem tibetischen Guesthouse einen Ruhetag einlegten. Wir wuschen unsere schmutzigen Sachen und machten uns dann zu Fuss auf den Weg ins nahe gelegene Ani Gompa (Frauenkloster). 











Der Weg dorthin führte über sumpfige Wiesen, vorbei an tibetischen Nomadenzelten und hunderten von Yaks. Diese so mächtigen, gehörnten und unvorteilhaft buckligen Tiere könnten einem wahrlich einen Schrecken einjagen, wenn sie denn nicht so unglaublich schüchtern und ängstlich wären. So überquerten wir die Yakweiden relativ gelassen während neben uns zwei ausgewachsene Männchen einen Zweikampf austrugen. Etwas später fanden wir eine Klosterschule und wir smalltalkten ein bisschen mit jungen Mönchen, die sich sichtlich amüsierten ab den vier Langnasen, die hier so unerwartet auftauchten. Wir besuchten das Klosterdorf und die Mani-Stein Mauer (aufgetürmte Gebetssteine, in die das buddhistische Mantra Om Mani Padme Hum eingraviert ist, welches ebenfalls auf alle Gebetsfahnen gedruckt wird, in grossen Lettern unterhalb von Berggipfeln zu lesen ist oder in den fünf Farben Blau, Weiss, Rot, Grün, Gelb an Felswände gemalt wird).














































Während des Ruhetags planten wir auch unsere nächste Etappe: Innerhalb der nächsten acht Tage mussten wir in eine Bezirkshauptstadt gelangen, um unser Visum auf dem Public Security Bureau zu erneuern. Das Problem - die Chinesischen Herbstferien, die sogenannte Golden Week hatte soeben begonnen. Acht Tage, an denen ganz China gleichzeitig Ferien machte. Dies bedeutete in Massen besuchte touristische Attraktionen, erheblicher Verkehr auf landschaftlich spektakulären Strassen und ausgebuchte Hotels in den Ferienregionen. Zudem blieben öffentliche Ämter, wie z.B. das Public Security Bureau während dieser Tage geschlossen. Wir hatten Glück, denn unser Visum war bis zwei Tage nach der goldenen Woche gültig. Zwei Tage mussten einfach ausreichen um diesen neuerlichen Papierkrieg zu erledigen. Einzige Bedingung - wir mussten rechtzeitig in einer Bezirkshauptstadt ankommen. Esther und Christof entschieden sich noch einige Tage im Hochland zu verweilen um dann ins nahe gelegene Kāngdìng zu radeln, während Domi und ich dem Touristenstrom entfliehen wollten und uns für die weniger frequentierte S215 entschieden, die über Jĭulóng hinunter nach Xīchāng führt. So verabschiedeten wir uns nach einem Monat gemeinsamen Reisens von Christof und Esther und machten uns auf den Weg. 

Im Schnitt würden wir 60 km pro Tag auf erhoffter gut asphaltierter Strasse zurücklegen müssen, um Xīchāng  rechtzeitig zu erreichen. Das sollte zu schaffen sein, denn nach nur einem Viertausender würde die Strecke meistens bergab verlaufen. So fuhren wir dem Fluss entlang das Tal hinunter, vorbei an Häusern, deren Architektur sich bereits wieder änderte - die tibetischen flachen Steinhäuser waren nun öfters versehen mit traditionell chinesischen geschwungenen Dächern - wir waren wieder unterwegs in eine neue Region Sìchuāns. Die weite Hochebene wandelte sich nach und nach in eine schmale Schlucht, die uns nach fast 100 km (Vorarbeiten ist nie schlecht) nach Shade führte. Auch hier hatte es viele chinesische Touristen, doch der Verkehr hielt sich sehr in Grenzen und wir fanden ohne Probleme ein günstiges Zimmer. Gestärkt durch eine deftig-scharfe Nudelsuppe mit Ei zum Frühstück fuhren wir weiter - heute erwartete uns der Viertausender. 

Die Strasse wurde leider zunehmend schlechter und Domi war kurzzeitig ausgeknockt durch eines allzu reichhaltiges Moon Cake (diese an Appenzeller Biberli erinnernden Küchlein werden traditionellerweise während der Golden Week an Familienmitglieder verschenkt. Sie triefen vor Öl und sind gefüllt mit einem süssen Mus aus roten Bohnen, gespickt mit verschiedenen Sorten von Nüssen - um es in den Worten von Max Willis, dem Rucksackskater und Künstler auszudrücken - heavy duty!), so schafften wir es an diesem Tag nur bis knapp unter den Gipfel. Wir übernachteten auf 4200 m.ü.M. in einem verlassenen Stall und ausser ein paar "gwundrigen" chinesischen Touristen, wurden wir nur von einer hungrigen, kleinen Ratte besucht, der unsere Leimschleimpolenta mit Essiggemüse ebenso wenig schmeckte wie uns.




















Am nächsten Tag erwartete uns auf der anderen Seite des Passes wieder einmal die Sonne und erneut andersartige Häuschen. Frauen schmücken ihre Häupter nun mit Hüten so riesig wie Doktorhüte oder verdecken mit orientalisch anmutenden schwarzen Turbanen ihre Haare. Hier leben die Yi, eine weitere chinesische Nationalität. Am frühen Nachmittag erreichten wir die Stadt der neun Drachen (Jĭulóng) und ich war zu müde um weiter zu fahren. Wir suchten uns ein günstiges Hotel, doch dies stellte sich schwieriger heraus als erwartet. Entweder sprengte der Preis unser Budget, die Zimmer waren alle komplett belegt oder aber es hiess aus sonst einem Grund "mei you" - gibt´s nicht. Schliesslich fanden wir ein Hotel, welches uns für 450 Yuan aufnehmen wollte. Während Domi aufgrund des horrenden Preises aufs Zelten drängte, bestand ich darauf das Zimmer zu nehmen - obwohl es ein ziemliches Loch war und wir umgerechnet 70 Franken (in der Golden Week steigen die Zimmerkosten ins unermessliche) dafür bezahlen würden. Ich blieb hartnäckig, bezahlte und Jĭulóng hatte einen feuerspeienden Drachen mehr...


Wahrscheinlich war es Intuition oder aber die gerechte Strafe - eine Stunde später lag ich fröstelnd mit 38.5°C Fieber im Bett und wurde wieder einmal geplagt von Verdauungsbeschwerden. Unter den tibetischen Pilzen, die wir zu Mittag gegessen hatten, hatte sich wohl ein fauliger eingeschlichen. Am Morgen hatte ich noch immer Fieber und Durchfall, doch für diese Absteige noch einmal 70 Franken zu bezahlen, so krank war ich dann auch wieder nicht. Wir rollten 43 km weit ins nächste Dorf, wo es glücklicherweise ein Gasthaus hatte. Ein Zimmer mit zwei grossen Betten, zwei Becken mit warmem Wasser um uns zu waschen und ein Plumpsklo gleich zwanzig Meter die Strasse hinauf in einem kleinen Betonhäuschen war alles was wir brauchten, und nur für 60 Yuan. Darüber hinaus wurden wir von der jungen Mutter, die den Laden ganz alleine schmiss, zum Abendessen, Fischsuppe mit Karpfen aus eigener Zucht, eingeladen. Da ich am nächsten Morgen immer noch Fieber hatte, beschlossen wir noch einen Tag zu bleiben, mich auszukurieren und dann an den darauffolgenden Tagen jeweils etwas weiter zu strampeln. Wir machten einen Spaziergang und wurden bald einmal verfolgt von der gesamten örtlichen Polizeitruppe in Zivil. Sie wollten eine Passkopie, machten eine Registrierung und stellten viele Fragen, doch diese wohl eher aus persönlichem Interesse, als aus Pflichtbewusstsein. 

Die Einladung zum Mittagessen mussten wir leider ausschlagen, denn wir waren bereits mit unserer Gastmutter verabredet. Diese hatte ihren ge ge (älteren Bruder), ihren di di (jüngeren Bruder; nationale Minderheiten wie beispielsweise die Yi, sowie die Bevölkerung der sehr ländlichen Gebiete sind von Chinas Ein-Kind-Politik ausgenommen - for your information) deren beide tai tai (Ehefrauen), sowie ihre lai lai (Grossmutter) zum Mittagessen eingeladen und uns ebenso. Bei diesem fröhlichen Beisammensein verstanden wir zwar kein Wort von dem was über und mit uns gesprochen wurde, doch wir amüsierten uns blendend. Bald einmal merkten wir auch, aus welchem Grund die Biergläser in China nur so gross sind wie bei uns Schnapsgläser. Jede Minute steht wieder jemand aus der Runde auf, macht einen Trinkspruch und dann werden die Gläser in einem Zug geleert, oder man stösst persönlich mit jemandem an, sagt einen Spruch und leert die Gläser zu zweit. So stand die eine tai tai plötzlich auf, erhob ihr Glas gegen mich, sprach irgendetwas, und wir tranken gemeinsam. Sie nickte, und sagte "wan mo!" - ich überlegte, verstand und war erstaunt, dass sie noch ein zweitesmal anstossen wollte, antwortete "Ok - one more!", füllte unsere Gläser erneut, wir stiessen an, legten unsere Köpfe in den Nacken und kippten das Bier runter. Die tai tai rülpste, büschelte einen Satz und fragte mich "What is your name?" Ich stellte mich ihr vor und fragte sie danach ebenfalls nach ihrem Namen. Sie rülpste erneut und entgegnete angeheitert "My name is Wan Mo!". Nach diesem feuchtfröhlichen Mahl zur Mittagsstunde verzogen wir uns in unser Zimmer und verliessen es erst wieder im Morgengrauen.


Seit drei Tagen regnete es immer wieder und wir trugen mehr oder weniger konstant unsere Regenbekleidung - zum Schutz vor dem Regen, aber auch zum Schutz vor dem Spritzschlamm von unten: Die Strasse wurde immer noch zunehmend schlechter, an ein rasches Vorwärtskommen war nicht mehr zu denken. Uns fiel auf, dass es nach Jĭulóng viel weniger Verkehr hatte und wir schrieben dies den fehlenden touristischen Attraktionen im unteren Teil des Tals zu - obwohl uns die Schlucht und die Berge immer noch sehr beeindruckten. 




In einem Dörfchen unterwegs kamen wir jedoch der Sache auf die Spur: Ein Autofahrer teilte uns mit, dass die Strasse weiter unten gesperrt sei. Ein anderer lachte uns aus und sagte, wir hätten keine Chance vor dem 8. Oktober (zwei Tage bevor unser Visum ablaufen würde) dort durch zu kommen. Wir hatten keine andere Wahl, als es zu versuchen. Noch wussten wir ja überhaupt nicht richtig was passiert war. Unsicher was uns erwartete, fuhren wir weiter bis ins Dörfchen, das kurz vor der Stelle lag, die uns auf der Karte als gesperrt gezeigt worden war. Wir fanden ein Guesthouse mit Dusche direkt neben dem Schweinestall. Die schmutzigen Zimmer konnten einzig mit den ausgezeichneten Kochkünsten der Besitzerin wettgemacht werden. 











Wir informierten uns bei den gestrandeten Auto-, Bus- und Lastwagenfahrern über den Strassenzustand. Ihre Zeichen waren relativ einfach zu deuten: Ein Stück weiter vorne schien ein ganzer Hang herunter gerutscht zu sein; an ein Durchkommen sei nicht mehr zu denken. Wir spielten fahrradtragende Spaziergänger, worauf sich die Chinesen gegenseitig anschauten, diskutierten und dann daumenhochhaltend nickten. Phuuh! Glück gehabt. Also fuhren wir am nächsten Morgen früh los, denn wir wussten immer noch nicht genau, was uns erwartete. Und tatsächlich - kurz darauf war die Fahrt zu Ende; Riesige Gesteinsbrocken lagen mehrere Meter hoch aufgetürmt vor uns und blockierten auf rund 20 Metern komplett die Strasse. Das konnte dauern, bis da wieder ein Auto durchfahren konnte... 


Wir hingegen befreiten unsere Räder vom Gepäck und staunten nicht schlecht, als die herumstehenden Männer die Fahrräder und unser Gepäck auf den Buckel schwangen und unsere Siebensachen eifrig und sicheren Trittes über das Geröllfeld trugen. Ich war mit meinen rutschigen Fahrradschuhen mehr als froh nur einen kleinen Frontroller und meine Lenkertasche über den drohenden Abhang tragen zu müssen... Auf der anderen Seite bedankten wir uns herzlich, bepackten unsere Räder wieder und fuhren weiter - raus aus der unberechenbaren Schlucht und hoch den nächsten Pass. Schon bei der ersten Haarnadelkurve merkte ich jedoch, dass meine Kräfte noch immer nicht wieder vollständig zurück waren und der ganze Visumsstress setzte mir langsam zu. Ich bettelte bei Domi um unsere Räder auf den nächsten Transporter verladen zu dürfen, um die vor uns liegenden 1500 Höhenmeter etwas schneller hinter uns zu bringen. Die gute Frau, die uns dann den Berg hinauffuhr kümmerte kein Schlagloch und wir fürchteten bereits um den Zustand unserer Räder, als wir sie oben auf dem Pass wieder ausluden. Die Abfahrt machten wir lieber selbst, denn bis zum nächsten Ort waren es nur noch 30 km. Es wurden die längsten unserer Reise - dass die Strasse noch schlechter werden konnte, damit hatten wir nicht gerechnet. Strasse darf man die S215 auf diesem Abschnitt mit Bestimmtheit nicht mehr nennen. Bachbett ist treffender. 


Wir erreichten Mianning auf den Felgen und nahmen uns das erstbeste Hotel. Noch vor der Dusche gönnten wir uns hungrig einen Hot Pot - wir waren wieder im Sìchuān der scharfen Küche angelangt. Anderntags erreichten wir endlich Xīchāng , wo wir uns als Erstes bei der Polizei registrierten. Das Public Service Bureau besuchten wir einen Tag vor Ablauf unseres Visums. Wir wussten, dass man als Tourist normalerweise einen Monat verlängert kriegt, brauchten aber mindestens zwei für unseren Reiseplan, der uns wieder zurück in die Berge führen soll. Auf gut Glück beantragten wir 90 Tage, worauf die Dame am Schalter abwinkte und sagte, nein, maximal einen Monat. Doch nettes Nachfragen wirkte Wunder und tags darauf waren wir stolze Besitzer unseres erhofften 60-Tage Visums. Jetzt kann unsere Tour weitergehen, in den Süden der Wolken, nach Yúnnán.