TCM |
Mit dem neuen Visum im Sack
gönnten wir uns in Xīchāng noch
einen letzten, richtigen Ruhetag, den wir mit durch die Stadt schlendern und
gut essen verbrachten. Der Gang durch das Altstadtviertel Xīchāngs holte uns aber dann wieder aus der modernen Zivilisation
mit ihren Fast Food Ketten, Shopping Malls und vielspurigen Strassen zurück ins
ursprünglichere China, wo Kleider am Brunnen von Hand gewaschen und Kinder zum
Pinkeln vor die Haustür gehalten werden, wo die Zukunft aus der Hand gelesen
und Medizin auf der Strasse ausgebreitet und verkauft wird.
Die traditionelle chinesische
Medizin kennt mehrere Tausend verschiedene Kräuter und Ingredienzien, welche in
Vielstoffgemischen gegen allerlei Leiden eingenommen werden. Auch tierische
Produkte werden immer noch gerne verwendet, obwohl viele der wirksamen Inhaltsstoffe
mittlerweile synthetisch hergestellt werden könnten. Die Chinesen glauben, dass
nur mit dem "echten" Produkt auch die Eigenschaften des jeweiligen Tieres
auf den Patienten übertragen werden. So werden Millionen von Wildtieren immer
noch jedes Jahr zu Salben, Tinkturen und Pulvern verarbeitet, Bären um deren
Gallensaft wegen "angezapft" und Tiger regelrecht zerlesen, um
allerlei "potente" Arzneien herzustellen. Der Handel mit bedrohten
Tierarten ist zwar offiziell schon lange verboten, aber das kümmert hier vor
Ort scheinbar die wenigsten: In schmucken Läden werden getrocknete Seepferdchen
zum Verkauf angeboten und auf der Strasse erhält man getrockneten Tigerpenis
und sehnige Tigerpranken - diese entweder am Stück, oder als einzelne Krallen.
Illegal? Schwarzmarkt? - es kommt einem nicht so vor. Ein Foto zu schiessen
wird uns dann aber unter heftigem Abwinken doch nicht erlaubt...
auch Medizin |
Auch beim Essen legen die
Chinesen grossen Wert auf die körperbeeinflussende Wirkung der Nahrung: Hier
wird nicht wie bei uns nur noch das Beste des Tieres herausgepickt, sondern
meistens das ganze Schlachtgut verwertet. Innereien, Hirn und Auge werden
ebenso gegessen wie Speck und Filet, um die Tätigkeit der entsprechenden
eigenen Körperteile positiv zu unterstützen. So gesehen war es auch nicht
verwunderlich, als eine junge Mutter ihrem kleinen Buben anstatt dem leckeren "Fischbäggli"
als erstes das Fischauge verfütterte - schliesslich soll das Kind später mal
keine Brille tragen müssen. Nach einem westlichen T-bone
Steak an Pfeffersauce und Pommes Frites verliessen wir also die Grossstadt
wieder und fuhren in die umliegenden Hügel.
typisches Haus der Yi |
Dicht besiedelte Vororte verdünnten
sich und liessen den verstreuten Yi-Dörfchen
inmitten üppig grüner Natur Platz. Hie und da begegneten wir noch Granatapfelverkäufern
am Strassenrand oder Bauern bei der Mais- und Reisernte, bis es schliesslich
nur noch wir, die neue, asphaltierte S307 und die uns überholenden, laut
hupenden Chinesen waren. Zum nächsten Pass sollten es noch ein paar hundert
Höhenmeter sein - doch was gehört zu einer perfekten, neu asphaltierten,
chinesischen Strasse? Genau - ein Tunnel. Unzählige dieser oft kilometerlangen,
stickigen, schwarzen Löcher ohne Ventilatoren bereiteten uns schon Unbehagen
durch meist unebenen Strassenbelag und zuweilen sogar Abzweigungen, die uns in
der Dunkelheit überraschten. Die Tunnels der neueren, beleuchteten Sorte sind aber
meistens eine wahre Freude - ersparen sie uns doch in dieser hügeligen
Landschaft einige anstrengende Höhenmeter.
Wie so oft, wartete auch bei diesem
Pass auf der anderen Seite ein neues Landschaftsbild: Eine andersartige Vegetation
zeugte von völlig neuen klimatischen Bedingungen. Das feuchtwarme Klima
ermöglicht hier am Yalong Fluss das
Wachstum von Bananenpflanzen und Kakibäumen, die mit ihren reifen Früchten die sonst
grünen Gärten mit leuchtend orangen Farbtupfern verzieren. Ich freute mich
aber, dass uns unsere Route ohne grosse Umwege wieder in die Höhe führte -
Fahrradfahren in dieser schwülen Hitze ist ziemlich anstrengend (wer es gerne
ausprobieren möchte trage seinen Hometrainer ins Tropenhaus des botanischen
Gartens und strample eine Stunde - das käme der Sache wohl in die Nähe).
In einem grösseren Dörfchen
fanden wir, umringt von staunenden und lachenden Kindern, ein günstiges Hotel.
Das Zelt und auch den Benzinkocher haben wir hier in China schon lange nicht
mehr gebraucht. Es findet sich praktisch in jedem kleinen Nest irgend eine
günstige Unterkunft, die immer alles hat was wir benötigen: zwei mehr oder
weniger saubere (zwar oft brettharte) Betten, fliessend Wasser (meistens Dusche
und Toilette auf dem Zimmer) und heisses Wasser für Tee und Kaffee - dies alles
für 3 - 8 Franken pro Person - je nach Standard. Auch das Essen ist hier so gut
und günstig, dass wir uns nur noch ab und zu unser Frühstück selbst zubereiten.
Doch auch hier ziehen wir die Nudelsuppe und Gŏubulĭ
bāozi (wörtlich übersetzt: Fleisch-
oder Gemüsegefüllte Dampfteigklösse, die die Hunde ignorieren) dem gezuckerten Instant
Oatmeal und hartgesottenen Eier aus dem Wasserkocher vor. Um ein gutes Zmittag
unterwegs geniessen zu können fehlt uns ein bisschen (ok, "bisschen"
ist stark untertrieben - obwohl das chinesische Essen zum leckersten auf
unserer Reise gehört, denken wir pausenlos an Berner Ankezüpfe mit
Ballmooserhonig und frischem Öpfuchueche mit Nidle) das Brot und richtige Sandwichzutaten
und so tanken wir unsere Energie jeweils verteilt auf mehrere, kurze Stopps mit
Hilfe von verschiedenen Früchten, Nüssen und süssem Gebäck. Zum Znacht besuchen
wir praktisch an jedem Abend ein chinesisches Lokal, in welchem wir für 6
Franken pro Person viel Reis und meist drei Gerichte bestellen. Nachdem wir allerdings
hier in Pingchuang die Kellnerin für
uns haben auswählen lassen und danach Schweinenieren und -magen erhielten
(selten so was zähes gegessen), wandten wir uns rasch wieder unserer
altbewährten Methode zu - bestellen was auf dem Nachbarstisch steht. Doch auch
dies kann in die Hosen gehen: Was von weitem herrlich duftet oder aussieht wie
gebratene Bohnen, entpuppt sich schnell einmal als in Öl gebratenes
Schweinefett und Korianderlaub auf Korianderwurzeln an einer glutamatgeschwängerten
Sojavinaigrette. Doch wer radelt hat Hunger und so essen wir meistens tapfer
alles auf - dass die meisten Chinesen einen riesigen Anstandsrest zurücklassen,
kümmert uns nicht - wir brauchen die Energie.
Chilliernte |
fruchtbare Hochebene bei Yanyuan |
Die nächsten 1500 Höhenmeter
hinter uns lassend, öffnete sich vor uns unerwartet eine riesige, fruchtbare Hochebene.
Bananenpflanzen waren Eukalyptusbäumen gewichen, ringsherum wurde fleissig
Landwirtschaft betrieben und unter den Bauern herrschte Hochbetrieb - es war die
Zeit der Ernte. In Einfahrten und Garagen, auf Schulhöfen und nicht selten
mitten auf der Strasse waren Maiskörner, Nüsse, Reis und Chillischoten zum Trocknen
ausgebreitet und entlang der Strasse verkauften Yi-Chinesen saftige Äpfel, und feine Mandarinen.
Dörfchen |
Nach der Hochebene
folgte dann wiederum ein Flusstal, zur Abwechslung mal gesäumt von niederen
Hügeln. Die wenigen Dörfer entlang der Strasse waren aufgrund der mit weisser
Farbe umrandeten Ziegeldächer der Häuser oft schon von weitem sichtbar, doch
zunehmend mischten sich nun auch einfache Blockhütten ins Dorfbild. Wir waren
angelangt im Reich der Mosuo, eine
der Naxi-Nationalität angehörende
Volksgruppe, die sich vor allem durch ein Merkmal von den anderen chinesischen
Ethnien unterscheidet: Hier haben die Frauen das Sagen.
Ausser politischen
Angelegenheiten, dem Schlachten von Grossvieh und dem Ackerbau, kümmert sich bei
den Mosuo die Frau um alles. In
dieser matrilinealen Gesellschaft erledigt Sie den Haushalt, zieht die Kinder
alleine auf und gilt als starkes Oberhaupt der Familie. Söhne bleiben im
Haushalt der Mutter wohnen, wo sie ihr Unterstützung bieten und als
"Onkel" bei der Erziehung weiterer Kinder in der Familie mithelfen.
Im Erwachsenenalter besuchen sie des Nächtens ihre Geliebte in deren
"Blumenzimmer", verlassen es aber bei Tagesanbruch wieder und kehren
zurück in ihr Mutterhaus, wo sich das tägliche Leben abspielt. Bei der
Erziehung ihrer eigenen Kinder spielen die leiblichen Väter dann aber keine
Rolle. Nur einmal im Jahr werden sie von ihren Kindern besucht, die ihrem Vater
bei dieser Gelegenheit so ihre Ehre erweisen.
Mosuo-Frau mit Sohn am Zubereiten unseres Znachts |
In einem dieser kleinen
Blockhüttendörfchen fragten wir nach einer Unterkunft und landeten so bei einer
Mosuo-Familie, die eine kleine
Herberge führt. Die energische Mutter zweier Söhne und einer Tochter nahm
unseren Besuch zum Anlass ein Hühnchen zu schlachten. Wir verstauten erst unser
Gepäck in unserem bescheidenen Zimmerchen mit Reisstrohmatratze, welches sich direkt
über dem Zimmer einer Yi-Frau befand,
die auf dem selben Raum mit ungefähr fünf Kindern lebte, und beobachteten anschliessend
die Hausmutter beim Zubereiten des Znachts: Erst wurde der armen Henne bei
lebendigem Leib die Federn am Hals gerupft, dann ritsch-ratsch-ritsch-ratsch
mit einem stumpfen Messer die Kehle durchgeschnitten, das Blut in ein
Schüsselchen gegossen und als die Henne ausgezappelt hatte, wurde sie mit
brühendem Wasser übergossen, so dass sie ihre Federn besser losliess. Das
geschlachtete Tier wurde nun sorgfältig ausgenommen, das ungelegte Ei kam
zusammen mit dem gründlich gewaschenen Darm und anderen Innereien in ein
zweites Schüsselchen. Bei so viel Sorgfalt zweifelten wir langsam daran, dass
die Innereien an die Schweine verfüttert würden und warteten gespannt auf unser
Nachtessen.
in der Mosuo-Herberge |
Bald einmal wurden wir zu Tisch gebeten. Zu sechst sassen wir auf
kleinen Holzschemelchen um einen kniehohen Tisch, vor uns ein Schälchen mit
Blutpudding, und zwei Schälchen mit gehacktem Huhn (die mühevolle Arbeit
Knochen zu entfernen wird hier gerne ausgelassen. Vom Kamm bis zur Klaue - es
landet alles im Topf). Den Darm rasch identifiziert und grosszügig beiseite
lassend stocherten wir in den Schälchen herum, bis wir ein Stück Fleisch
zwischen den Stäbchen hatten und dieses in unser Reisschälchen sichern konnten.
Nur zu gerne hätte ich der gastfreundlichen Frau gesagt, dass wir doch unser Pouletbrüstchen
vakuumverpackt in der Migros zu kaufen gewohnt sind. Glücklicherweise gab es
auch noch rohe Kartoffelrösti dazu, die gleich vor meinem Reisschälchen stand.
Der besorgten Frau entging aber nicht, dass ich des Öfteren nach den Kartoffeln
pickte und bot mir die besten und nützlichsten Teile vom Huhn an. Ach, hätten
wir doch Kontaktlinsen getragen...
Nachdem wir unsere Bäuche mit
Reis, Kartoffeln und der Hühnersuppe gefüllt hatten, legten wir uns schlafen
und machten uns am nächsten Tag wieder auf den Weg, der uns an den Lugu-See
führte. Hier leben die meisten der Mosuo,
doch von der ursprünglichen Kultur ist nicht mehr viel zu sehen. Diese einzigartige,
matriarchale Gesellschaft, die hier in dieser romantischen Umgebung lebt, lockte
den chinesischen Massentourismus an und so grenzt nun ein Hotel oder Guesthouse
ans nächste. Trotzdem genossen wir die zwei Rad-und Wandertage am Lugu-See zusammen
mit vielen anderen chinesischen Touristen und tankten neue Energie und viel goldene
Herbstsonne.
Lugu See |
"Romantik pur" am Lugu See
Reisanbaugebiet vor Ninglang |
Als wir über die westliche Hügelkette nach Yúnnán
radelten, wartete dort bereits das nächste Flusstal auf uns. Lehmdörfchen und wiederum
mit alten Ziegeln bedeckte Häuser schmückten die grünen Berghänge und im
weitläufigen Tal trafen wir auf emsige Chinesen bei der Reisernte. Da wir uns wider
Erwarten plötzlich auf einer neuen Strassenführung bewegten, erreichten wir
unser Ziel, Nínglàng bereits am frühen Nachmittag.
Bauern bei der Reisernte |
Am nächsten Tag ging´s dann los auf über 3000 m.ü.M. wie gewohnt durch sehr ländliche Gegenden. Desöfteren nervten uns aber die psychopathischen Hunde, die ihren Hof am Strassenrand bewachten. Uns zwar meistens nur bis zu den Knien reichend, bellten sie schon energisch drauf los, sobald sie uns um die Kurve entgegenkommen sahen. Die glücklichen unter ihnen, die nicht angebunden waren, hetzten dann in unsere Richtung und zwangen uns zum Anhalten und Absteigen. Während Domi unser Revier, die Strasse, mit Geschrei, Andeuten eines Stockes, und im schlimmsten Fall Steinen als Wurfgeschoss gegen die wütenden Tölen verteidigte, schlich ich mich jeweils im Schritttempo davon. Gebissen hat noch keiner, doch es ist wahrlich eine Kunst, bei einer rasanten Talfahrt das Gleichgewicht nicht zu verlieren, wenn so ein Biest aus heiterem Himmel plötzlich aus dem Gebüsch auftaucht, dir wie ein geölter Blitz hinterherjagt und sich vorher nicht einmal durch Bellen bemerkbar macht, sondern alleine durch das hastige Schürfen der Krallen auf dem Asphalt verrät, dass er bereits bis zu deinen Hinterradtaschen aufgeholt hat. Da hilft nur - noch schneller in die Pedale treten und erst nach der nächsten Kurve durchatmen.
reicher Ertrag |
Yangtse am Spätnachmittag... |
...und am nächsten Morgen |
Nach einer rasanten Talfahrt erreichten wir am Abend den mächtigen Yangtse. Wir fanden ein einsames, aber perfekt gelegenes Hotel einer Naxi-Familie, assen altherkömmliche, chinesische Kost (will heissen: Seit neustem stehen auch frittierte Bambusmaden auf der Speisekarte, für die wir allerdings nicht mutig genug waren) und waren im Bett kaum als die Sonne hinter den Berggipfeln verschwunden war.
18 Haarnadelkurven später |
Die nächste
Bergetappe nahmen wir dann eine Stunde früher als gewohnt in Angriff, genossen
die 18 Haarnadelkurven aus der Yangtse-Schlucht heraus, die anschliessende 20
km lange Staubpiste dann weniger, und erreichten das Städtchen Lìjiāng, die Stadt am schönen Fluss am
Fusse des Jadedrachenschneeberges. Und wenn man die Grösse Chinas und die
anders gewählten Routen bedenkt gilt es immer noch als vortreffliche Schweizer
Pünktlichkeit: Zwei Stunden später trudelten Marianne und Tobias ein...